Donnerstag, 7. Juni 2012

Kleiner Versuch einer allgemeinen Wissenschaftstheorie

Bitte beachten Sie, wie oft in einem Gedicht "wie" vorkommt. "Wie", oder "wie wenn", oder "es ist, als ob", das sind Hilfskonstruktionen, meistens Leerlauf [...] gut, Rilke konnte das, aber als Grundsatz können Sie sich daran halten, dass ein Wie immer ein Einbruch des Erzählerischen, Feuilletonistischen in die Lyrik ist. -- (Gottfried Benn)
"Der Raum der Gründe ist zwar leer, aber die Tür ist offen."
Von einem durch die kleistsche Brille gelesenen Kant inspiriert versucht sich Hans Vaihinger bei der Bestimmung des Verhältnisses von Realität und Schein in essayistisch-saloppem Stil:
Die organisierende Tätigkeit der logischen Funktion reisst alle Empfindungen in ihren Prozess herein und baut so ihre eigene innere Welt auf, welche sich von der Wirklichkeit immer mehr entfernt und doch an gewissen Spitzen wieder mit ihr so eng zusammenhängt, so dass stets ein Übergang von der einen in die andere stattfindet, und der Mensch gar nicht merkt, dass er gleichsam doppelt handelt - in seiner inneren Welt (die er freilich objektiviert als die sinnliche Anschauungswelt) und in einer ganz anderen Welt, in der äusseren. Es gibt also Wechselorte, wo die Werte der einen Welt gleichsam in die der anderen umgetauscht werden, wo der lebhafte Verkehr zwischen beiden Welten ermöglicht wird, wo gleichsam das leichte Papiergeld der Gedanken umgesetzt wird in die schwere Münze der Wirklichkeit, und wo umgekehrt das Metall der Wirklichkeit gegen jene leichtere Ware, welche aber auch den Verkehr erleichtert, umgetauscht wird.
(Vaihinger, Die Philosophie des Als ob)
Während die Naturwissenschaften nun stets darauf angewiesen bleiben, das "Papiergeld" ihrer Konstruktionen ins Kleingeld der Erfahrung zurückzutauschen, können Kunst und Literatur in einem "viel weiteren Spielraum" spekulieren. Die Naturwissenschaft muss auf Logik und Empirie setzen, um ihren Gegenstand nicht zu verlieren. Sie tut das allerdings nicht im leeren Raum, sondern immer unter Zuhilfenahme von "Idealen der Natur[- und Theorie]ordnung" (Toulmin), "regulativen Ideen" (Kant), "Paradigmen" (Kuhn), etc.
Denn wenn wir es auch immer der Natur selbst überlassen müssen, wie sie unsere Fragen beantwortet, sind wir es doch, die die Fragen stellen. Und welche Fragen wir stellen, hängt unvermeidlich von voraufgegangenen theoretischen Erwägungen ab. Wir haben es hier nicht so sehr mit vorgefaßten Meinungen als mit vorgeformten Begriffen zu tun; und wenn wir die Logik der Wissenschaft verstehen wollen, müssen wir erkennen, daß der Gebrauch vorgefaßter Begriffe dieser Art unvermeidlich und legitim ist -- wenn er in der angemessenen Weise sub judice und der Revision durch die Erfahrung unterworfen bleibt.
(Toulmin, Voraussicht und Verstehen) 
Sehr viel mehr hat auch Heidegger nicht gemeint, als er in "Was heißt Denken?" glaubte stipulieren zu können, die Wissenschaft denke nicht -- sie ist (als Forschung) Exekution von Programmen (Lakatos), "puzzle-solving" (Kuhn), nicht selbst Programmierung. Dabei sind die Wissenschaften auf doppelte Weise "positiv": Sie setzen jeweils bestimmte Prinzipien [die "vérités positives" im Sinne von Leibniz, allerdings "detranszendentalisiert" (Habermas)] voraus, innerhalb derer sie ihre Forschungsspiele kultivieren -- und sie fördern positive Ergebnisse zutage, die auf die konventionelle (Poincaré) Unterstellung dieser Prinzipien zurückverweisen, ohne aus diesen schon ableitbar zu sein (das ist ihr empirischer Teil). Die Prinzipien selbst sind allerdings nicht "interner" Teil der wissenschaftlichen Fragestellungen, sie gehen diesen als "externe" Ermöglichungsbedingungen (wer eine altmodische Terminologie vorzieht, kann hier auch "Bedingungen der Möglichkeit"  (Kant) sagen) voraus. Aber auch der nicht-dogmatische Naturwissenschaftler kann ein Spieler sein.
Er kann die grundlegenden Prinzipien (z.B. zweiwertige Logik, Einheit der Natur, das Berechenbarste ist das Wirklichste, die cartesische Raumvorstellung) variieren, "die Brille, die er aufhat, abnehmen" (Toulmin) und so mit alternativen Weisen der Weltbetrachtung (Goodman) experimentieren. Dadurch erklärt sich auch die faktische Pluralität wissenschaftlicher Ontologien ("Elementarteilchen" in der Physik, "Organismen" in der Biologie, "Texte" und "literarische Figuren" in der Literaturwissenschaft, undsoweiter), die sich in einer Meta-Theorie nur als ein pluraler "interner Realismus" (Putnam/Carnap) beschreiben lässt, der jeder Wissenschaft relativ zu ihrer jeweiligen "Paradigmen" einen bestimmten Gegenstandsbereich zuordnet, ohne etwas zu deren jeweiligen Verhältnissen aussagen zu können. [Hier war Thomas Kuhn im übrigen dogmatischer als Toulmin, sofern er den Glauben an ein wissenschaftliches Paradigma mit dem religiösen Glauben analogisiert hat und so indirekt der Beschreibung der Natuwissenschaften als dogmatisierend Vorschub geleistet hat.].

Wer aber im Hinblick auf unsere "unsichtbaren geistigen Brillen" (Toulmin) -- vielleicht inspiriert durch die sehr viel freieren, auf sehr viel weniger Prinzipien verpflichteten Spiele der Literatur -- eine Art inneres Modebewusstsein entwickelt, kann sich in sehr viel mehr sehr viel verschiedeneren geistigen Milieus bewegen, ohne sich jeweils als "Muffel" (Sloterdijk) darstellen oder "outen" zu müssen. Der Redogmatisierung der modernen Wissenschaft (auch der Philosophie) muss man nicht mit fatalistischer Miene beiwohnen. Wieso sollten wir uns heutzutage noch entscheiden müssen, ob wir "Realisten" sind oder "Anti-Realisten" oder "Konstruktvisisten", ob die Phänomene des Alltags sich nun auf die Physik oder die Neurophysiologie zurückführen lassen oder nicht, wenn wir verschiedene Argumente mit ihren jeweils vorausgesetzten Grundannahmen in ihrer Reichweite reflektieren können, ohne uns dabei dogmatisch an eines dieser Argumente klammern zu müssen. Die Philosophie ist keine positive Wissenschaft. Sie hält den Spielraum der Möglichkeiten offen und erfindet Alternativen (und das auch außerhalb des weiteren naturwissenschaftlichen Paradigmas). Die Philosophie ist keine "Ontologin". In ihrer spezifischen Freiheit ist sie eher die strenge Schwester der Literatur. Während diese aber vor allem Lust am Spiel ist, ist jene in ihrer Irritations-Offenheit vor allem anstrengend, sofern Unsicherheit gegenüber der autogenen Souveränitätssuggestion (Dogmatismus) immer der destabilisierendere Seelenzustand ist.
Aus diesem Spannungszustand, der also ein unangenehmes Gefühl mit sich bringt, erklärt sich nun ganz naturgermäss die Tendenz der Seele, jede Hypothese in ein Dogma zu verwandeln. Der einzige Weg, um ein labiles Gleichgewicht in ein stabiles zu verwandeln, ist die Unterstützung des betreffenden Körpers: in der Psyche entspräche dieser Notwendigkeit, die Hypothese durch immer neue Bestätigung immer stabiler zu machen. Diesen einzigen erlaubten Weg indessen, der bei manchen Vorstellungen nicht bloss Jahrhunderte in Anspruch nehmen kann, sondern bei manchen sogar ganz unmöglich ist, umgeht die Psyche einfach dadurch, dass sie die Hypothese auf unerlaubte Weise in ein Dogma verwandelt. 
(Vaihinger, Philosophie des Als ob)
[Re-Entry vom 21.12.11]

1 Kommentar:

  1. Woody Allen says: I admire theories. They explain things, even if they are absolutely incomprehensible.
    Hence, the problem is trust. You would never know in advance whether or not theoreticians are stupid or intelligent; or just kidding. You’d always have to read their stuff, eat their food, gaze at their shoes, and, then, make up your own mind, recognizing the input of Pre-Socratics like Plato, Aristotle, Beethoven, Einstein, Lynch, and others – which gives you stress.
    So, if insight takes time, it is rudely undemocratic. It is not America. Why can't we just vote, preferably on a Sunday, for geniuses, and dismiss idiots the day after?

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