Montag, 2. April 2012

Das zerstreute Selbst: stultitia moderna

Das Internet hat, außer manchen anderen Verstimmungen des Gemütes, auch dieses zur Folge, daß es die Zerstreuung habituell macht. 
(Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht)

Ein ironisches Lob der Torheit im Munde der Torheit.
(Kaminsky über Erasmus´ Laus Stultitiae)
Immer in der Mitte anfangen. Einen Text kurz anlesen, das Ende zuerst, sich doch wieder umentscheiden, wieder verschwinden, Interessanteres suchen, die Aufmerksamkeit eine Weile an einen Neuigkeiten-Ticker hängen, müde werden, einnicken, wieder weiter suchen -- das zerstreute Selbst ist flüchtig und neugierig, augenblicksgläubig und augenblicksvergessen, mit einem gewissen Hang zur folgenlosen Pointe. 
Neugier [ist] durch ein spezifisches Unverweilen beim Nächsten charakterisiert. Sie sucht [...] nicht die Muße des betrachtenden Verweilens, sondern Unruhe und Aufregung durch das immer Neue und den Wechsel des Begegnenden. In ihrem Unverweilen besorgt die Neugier die ständige Möglichkeit der Zerstreuung.
(Heidegger, Sein und Zeit)
Ungesammelt, nur kurzfristig aufmerksam, dabei stets vergesslich: es steht in der Küche und weiß nicht mehr genau, was es hier eigentlich wollte, lässt sich vom Angebot der Schränke aber spontan zu etwas inspirieren, macht sich um halb vier sowas ähnliches wie Mittagessen. Modularisierung und beliebige Wiederzusammensetzung des Tagesablaufs, Alltagsbricolage. Eine Kanne Kaffee vor dem Schlafengehen spricht es davon, seinen Schlaf-Rhythmus irgendwann einmal wieder dem anzunähern, was es als für "so allgemein als normal" befunden befindet. Nie ganz bei sich, poly- oder dekonzentriert, inspirationsoffen und unverhärtet verwirklicht es den "postanankastischen" (Clam) modus vivendi -- an vielem interessiert, vieles zugleich bearbeitend, multitabing-erprobt.
Stultus ist derjenige, der unachtsam sich selbst gegenüber ist. [...] Stultus ist derjenige, der sich allen äußeren Reizen aussetzt, für die äußere Welt offen ist, d.h. derjenige, der alle Vorstellungen, die ihm die äußere Welt zu bieten hat, in seinen Geist einläßt. Er nimmt die Vorstellungen an, ohne zu prüfen, was sie vorstellen. [...] Somit ist der stultus jeder Bewegung von außen kommender Vorstellungen ausgesetzt, ohne, sobald diese in seinen Geist eingetreten sind, fähig zu sein, die Grenze zu ziehen, die discriminatio vorzunehmen zwischen den Inhalten dieser Vorstellungen und den [...] subjektiven Elementen, die sich daruntermischen. Der stultus ist folglich auch der zeitlich Zerstreute, d.h. nicht nur der für die Vielfalt der Welt Offene, sondern auch der in der Zeit Verstreute. Der stultus erinnert sich an nichts, er läßt sein Leben zerrinnen, er bemüht sich nicht darum, seinem Leben eine Einheit zu geben [...].
(Foucault, Hermeneutik des Subjekts)
Das zerstreute Selbst weiß selbst nicht, was es bedeuten würde, mit sich identisch zu sein, gibt stattdessen lieber "Ich" und "Selbst" und "Identität" in die Suchmaske ein; und ist dabei selbst mehr Such-Maske als persona. Dass es trotzdem immer irgendwie mit sich zu tun hat, erkennt es dann vor allem an seinen schlechten Gewohnheiten und dem, was sein inspiriertes Fließen sonst noch so zum Ruckeln bringt: seine "Ermüdung, die unmotivierten Stimmungswechsel, die Tagesschwankungen, [...] Nichtschlafenkönnen, Abstoßungen, Übelkeiten", das zerstreute Ich "ist ein durchbrochenes Ich, ein Gitter-Ich, fluchterfahren, trauergeweiht" (Benn, Probleme der Lyrik) -- denn traurig ist das zerstreute Selbst meistens allein: Traurigkeit ist ungesellig.
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen