Samstag, 3. Mai 2014

Über den Mangel an theoretischer Demut in der gegenwärtigen Philosophie


In einem etwas erregten Gespräch mit auf den ersten Blick als „epistemic peers“ auftretenden Gesellen begegnete dem Autor jüngst die Ansicht, dass ein großer, wahrscheinlich sogar der größte Teil dessen, was heute an sogenannter „kontinentaler“ Theorie in schriftlicher Form vorliege, letztlich auf nichts als „Geschwafel“ hinauslaufe. Ja, es sei sogar legitim, so einer der Gesprächspartner, diese ganze Theorie trotz eigener Unkenntnis nicht bloß nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern darüber hinaus auch noch als das, was sie eben darstelle, zu verunglimpfen: als blanken Unsinn. 

Auf die Rückfrage, wie man das trotz eingestandener Unkenntnis dieser Theorietraditionen vor sich selbst rechtfertigen könne, antwortete der Angesprochene, dass es zum einen ja schon aus rein pragmatischen Gründen wichtig sei, sich „Heuristiken“ anzueignen, um die Menge der überhaupt zu würdigenden Texte radikal zu reduzieren, man sich von der Bedeutungslosigkeit dieser Theorien aber ohnehin schnell überzeugen könne, indem man sich ein beinahe beliebig zu wählendes Textstück aus dem Gesamtkorpus eines der betroffenen Autoren einmal theoretisch zur Brust nehme, um dann unweigerlich festzustellen, dass diese Texte letztlich auf eine Mischung aus unnötiger Komplexion und Trivialitäten hinausliefen. Was aber jenseits dieser beiden Zutaten liege, sei dann nur noch schlichtweg unverständlich, und man wisse ja, dass diese „Theoretiker“, aus Mangel an Gedanken, ihre Zeit damit zubrächten, sehr kompliziert erscheinende - und vor allem: sehr lange! - Sätze zu erzeugen, die letztlich aber gar nichts mehr bedeuteten. Und(!): Es sei zu vermuten, dass die entsprechenden Autoren dies ja eigentlich insgeheim wüssten, ja, dass sie sich alle gegenseitig zu diesem Unsinn verschworen hätten und also eigentlich nur noch für sich selbst dieses Trauerspiel der nicht offen eingestandenen Sinnlosigkeit als Theorie aufführten.


Es sei doch eigentlich selbstverständlich und jedem klar, dass eine theoretische Beobachtung übersetzbar sein müsse in eine einfache und klare, eingängige Sprache, übersetzbar in konkrete, aufzählbare, satzförmige „Thesen“ und „Argumente“. Und die Unmöglichkeit, die Überlegungen bestimmter Autoren – wir wählten zum Beispiel Luhmann und Habermas – in solchen einfachen Thesen zu übersetzen, sei ja der deutlichste Beweis dafür, dass hier eigentlich gar nichts Klares weder gemeint noch etwa gar gedacht sein könne. Solle doch einmal einer einfach und deutlich sagen, was dieser Luhmann meine, dann könne man ja vielleicht noch einmal darüber diskutieren.

Ich versuchte mich an dem Einwand, dass es ja sein könnte, dass auch eine Theorie, wenn sie entsprechend komplex sei, und vielleicht auf etwas mehr hinauslaufe als auf eine Menge gerechtfertigter Thesen [DAS ja hier überhaupt eine der zentralen Fragen: ob die sogenannte „analytische“ Philosophie es überhaupt je zu mehr als Thesen und Argumenten gebracht hat], eine gewisse Lernzeit voraussetze. Ähnlich vielleicht wie in der Mathematik, in welcher der Anspruch, was ein junges Bewusstsein in zwei bis drei Jahren sich lang- und mühsam aneignen kann, hier und jetzt in sofort verdaubares Thesengut zu übersetzen, glücklicherweise sofort absurd erscheinen muss.

An dieser Stelle, wenn ich das überhaupt richtig beurteilt habe, zögerte der Angesprochene kurz, rang sich dann aber doch durch zu einer Position, die ich nur wie folgt und in eigenen Worten wiedergeben kann: In der Theorie liege die Bringschuld doch immer beim Text, nicht bei seinem Leser. Wenn es dem Text aber nicht gelinge, innerhalb einer relativen kurzen Zeit dem Leser, der sich selbst schon als eine der legitimen Spitzen der Intellektualität identifiziert habe (er sprach also von sich), zu vermitteln, was er eigentlich behaupten wolle, habe er sich eben als Unsinn disqualifiziert und müsse folglich nicht weiter ernst genommen werden. Man habe also weder Lust noch Zeit, davon auszugehen, dass es da draußen in der Welt der Theorie noch etwas gäbe, das man selbst noch nicht zu verstehen in der Lage sei.

4 Kommentare:

  1. Obwohl ich mit dem dargestellten Standpunkt nicht vollständig mitgehen würde, finde ich die Erwartung, dass die Bringschuld beim Text liegt, durchaus berechtigt. Eine Theorie zu lernen, ist wie eine andere Sprache zu lernen. Wer die Sprache nicht beherrscht, der wird auch nicht verstehen können, was jemand damit ausdrücken will. Wer zu einem Publikum chinesisch spricht, dass kein Chinesisch versteht, braucht sich hinterher auch nicht beschweren, dass man ihn nicht verstanden hat. Genauso ist es mit Theoriesprachen. Selbst wenn sie die absolute Wahrheit verkünden sollten. Wenn man es so ausdrückt, dass es niemand verstehen kann, nützt das herzlich wenig. Deswegen heißt es ja auch, nicht nur im Hinblick auf Theoriesprachen, Fachchinesisch. Insofern liegt die Bringschuld durchaus beim Autor, wenn das heißt, dass er übersetzt indem er an konkreten Beispielen deutlich macht, wie seine Sprache zu verstehen ist. Theorien sollen ja dabei helfen Dinge zu verstehen, die man bisher nicht verstanden hatte. Die Beschäftigung mit Theorien, denen das nicht gelingt, halte auch ich für Zeitverschwendung. Zeit ist nun mal ein knappes Gut. Wer nicht bereit ist seinen Lesern in dieser Hinsicht entgegen zu kommen, wird halt irgendwann keine mehr haben.

    Mithin ist es ja keine unberechtigte Kritik, dass sich bestimmte Theorien als ziemlich banale Ideen entpuppten. Womit wir auch schon den Grund für diese Abwehr gegen Leserfreundlichkeit gefunden hätten. Für die Selbstdarstellung war dies durchaus hilfreich, weil man sich auf diese Weise als Hüter eines höheren Wissens präsentieren konnte. Mit dieser Selbstmystifizierung kann man abgeklärte Geister heute allerdings nicht mehr beeindrucken. Zugleich kommt das ziemlich besserwisserisch und paternalistisch rüber, wenn man nur durch die Behauptung einer Wissensdifferenz die Aufmerksamkeit anderer Personen auf sich lenken kann – wobei der Dumme und Aufklärungsbedürftige natürlich immer der Andere ist. Wer hat schon Lust sich für dumm verkaufen zu lassen? Selbst wenn es nicht so gemeint ist, so kommt diese Abwehr gegen die Forderung nach einer besseren Verständlichkeit der Theorie beim Publikum an.

    AntwortenLöschen
  2. Dem würde ich grundsätzlich nicht widersprechen. Allerdings halte ich die entsprechende Gegenentwicklung doch zumindest für bedenklich: Wer zu viel auf Eingängigkeit abstellt und gleichzeitig den eigenen Verstehenshorizont als Maßstab für Verständlichkeit als solche voraussetzt, der wird sich früher oder später in einer autogenen Glocke des als verständlich immer schon Vorausgesetzten wiederfinden. Was nichts anderes heißt als: der lernt nichts mehr, was sich jenseits einer bestimmten Nähe zu dem, was er eh schon versteht, aufhält. Wenn er dabei Glück hat - und das würde ich für die oben angedeutete analytische Position unterstellen - findet er oder sie sich in dieser Glocke nicht alleine wieder. Dann wird die Sache meiner Ansicht nach allerdings theoriepolitisch etwas gefährlich. (Wenn ich das richtig im Blick habe, stehst Du ja selbst mit einer gewissen Zuneigung für Luhmann auf der Abschussliste der oben skizzierten Position.)

    Ich bitte weiterhin um konkrete Beispiele für Theorien, die sich "als ziemlich banale Ideen entpuppten". Dass es immer wieder die Tendenz gibt, sich durch Selbstmystifizierung eine Aura von Tiefsinnigkeit anzuarbeiten, würde ich im Großen und Ganzen zugestehen. Allerdings bevorzuge ich selbst bei Texten, denen ich so etwas unterstellen würde, die Heuristik der lectio difficilior: Solange ein Text irgendwie sinnvoll faszinierend und/oder interessant interpretierbar ist, selbst wenn das einige Anstrengung erfordern sollte, sollte man das versuchen. Sonst steht man bald allein unter lauter als Unsinn hingerichteten Texten auf dem einsamen Schlachtfeld der Theorie.

    Demut würde hier also bedeuten: Unterstelle, solange Du nur kannst, auf der anderen Seite Intelligenz.

    AntwortenLöschen
  3. "Wer zu viel auf Eingängigkeit abstellt und gleichzeitig den eigenen Verstehenshorizont als Maßstab für Verständlichkeit als solche voraussetzt, der wird sich früher oder später in einer autogenen Glocke des als verständlich immer schon Vorausgesetzten wiederfinden."

    Mag sein. Das ist allerdings ein Problem, das nicht nur auf wissenschaftliche Theorien beschränkt ist, sondern jede Weltsicht betrifft - damit ist keine Ideologie gemeint, sondern das Wissen, mit dem wir uns im Alltag zurechtfinden. Das Wort "Filterbubble" stellt ja auf denselben Effekt bei Internet-Communities ab. Man mag diese Abschließungstendenzen für gefährlich halten. Sie sind aber zugleich ziemlich erwartbare und bis zu einem gewissen Grad völlig normale Phänomene. Wenn man das weiss, dann kann man auch etwas gegegen tun, vor allem bei sich selbst. In meinem letzten Blog-Text hatte ich auch was dazu geschrieben (siehe Abschnitt VII: http://goo.gl/RuPzHn). Sieh es mal so: diese Abschließungstendenzen sind die Indikatoren an denen man die geistige Autonomie der Menschen bemerkt. Diese sollte man zunächst erstmal anerkennen und ernstnehmen, denn letztlich ist das doch das Ziel der Aufklärung. Wenn man das tut, dann merkt man nämlich auch auf welch fragwürdige Argumente man sich einlässt, wenn man das vorberhaltlos kritisiert. Denn das hieße zu beklagen, was man gleichzeitig fordert, nämlich das die Menschen ihren eigenen Verstand benutzen.

    Den Vorwurf gegen Luhmann registriere ich und versuche selbst die von Luhmann nur sehr unzureichend betriebene Übersetzungsarbeit zu leisten, um eben den Vorwurf zu entkräften. Wer meine Texte kennt, weiß allerdings auch, dass ich es meinen Lesern bestimmt nicht einfach mache. Letztlich geht es immer darum eine gute Mischung zwischen Leserfreundlichkeit und Leserunfreundlichkeit zu finden. Man darf es also seinen Lesern weder zu leicht noch zu schwer machen. Ich versuche sie zu verstehen und ich geben ihnen die Chance mich zu verstehen.

    Paradebeispiele für das semantische Aufblasen ziemlich banaler Ideen, sind die ganzen poststrukturalistischen und postmodernen Theorien. Hab erst Letztens mal wieder Derridas Text über die differance gelesen. Wenn man weiß worüber er scheibt, merkt man, was für ein aufgeblasenes Geschwätz das ist.

    AntwortenLöschen
  4. Lieber Blog-Autor. Ich bitte, Ihren Eintrag "Über den Mangel an Demut in der gegenwärtigen Philosophie" als Flugblatt an die Eingangspforten jeder philosophischen Fakultät des Landes zu nageln. Mehrfach täglich, mindestens sieben Jahre lang. Unter Umständen kann ich große Mengen Geld organisieren, die es ermöglichen, mehrere Vertreter theoretischer Haltungen Ihren Text im Schrift-Font "Carnevalee Festival" auf die Stirn oder das Herz zu tätowieren - als didaktische Probebohrung, so to speak. Interessant wäre es noch, zu klären, wo sich der logische Ort des Satzes "Wenn man weiß, worüber er schreibt, merkt man, was für ein aufgeblasenes Geschwätz das ist" befindet - ist er doch ein Prachtexemplar archontischen Missionsgeists, ja, er blendet als Banner einer künftigen rizómata pantón all jene, die noch nicht wissen, und deshalb aufgeblasenen Geschwätz noch(!!) nicht von akurat übersetztem Sinn zu unterscheiden wissen. Mein Vorschlag, werter Autor, ziehen Sie ihn in die Überschrift, und setzen sie damit den Punkt auf ihr überaus gelungenes i: "Wenn man weiß, worüber er schreibt, merkt man, was für ein aufgeblasenes Geschwätz das ist - Über den Mangel an Demut in der gegenwärtigen Philosophie".

    AntwortenLöschen